"Menschen haben den Kopf voller Pläne,
doch nur Gottes Beschluss wird ausgeführt."
Sprüche 19,21
Als Ulyana Mongusch von ihrer Arbeit erzählte, trug sie ein leuchtend gelbes Kleid im tuwinischen Stil. Es herrschte trostlos graues Moskauer Wetter. Daher konnte es mir beim Anblick solcher Schönheit nur besser gehen, und es stellte sich schnell heraus, dass die Kleiderwahl nicht zufällig war: „In Kysyl, der Hauptstadt von Tuwa, haben wir sehr heisse Sommer und sehr kalte Winter. Im Winter heizen wir Tag und Nacht unsere Öfen mit Kohle, weil die Zentralheizungen zu wenig Wärme abgeben. Die ganze Stadt ist mit schwarzem Smog erfüllt ist. Es wäre unvernünftig, etwas Weisses anzuziehen, denn bis zum Abend sind die Kleider schwarz vom Russ. Aber ich bin Lehrerin, und ich erachte es als meine Pflicht, meine Studentinnen und Studenten zu inspirieren. Darum ziehe ich im Winter trotz dem Russ etwas Helles an. So habe ich auch dir einen Sonnenstrahl gebracht.“
Ulyana hat einen Doktortitel in Musiktheorie und unterrichtet an der Kunsthochschule in Kysyl. Sie gehört zu einem Volk, das bis heute sehr enge Bindungen zu seinen ethnischen Traditionen pflegt. Sie berichtet: „Alle Tuwiner haben irgendeine Erfahrung mit dem Leben in Jurten, und selbst wer sesshaft in einer Stadt oder einem Dorf wohnt, hat irgendwann – und sei es in der Kindheit – während des Sommers nomadisch lebende Verwandte in ihren Jurten besucht.“ Nun hat Ulyanas europäischer akademischer Hintergrund auf entscheidende Weise ihren Geschmack und ihre Lebensart verändert, und während langer Zeit hatte sie in ihrem Herzen keinen Platz mehr für ihre traditionelle Kultur. „Ich verachtete die Volksmusik“, bekennt sie, „ich war Anhängerin der europäischen Musik. Wenn ich die Töne der tuwinischen Maultrommel hörte, fühlte ich mich unwohl“. Dazu kommt, dass die Tuwiner traditionell Buddhisten sind, Ulyana aber hat sich für Christus entschieden. In den 1990er Jahren, als wir vom IBT noch daran waren, die Bibel in die tuwinische Sprache zu übersetzen, war Ulyana als Testperson unter den ersten Leserinnen, die im IBT-Projekt mithalfen und ihre Kommentare zu der Übersetzung abgaben. Die Welt, in der sie nun lebte, überschnitt sich nicht mit der Welt ihrer Kindheit und ihrer traditionellen Kultur, es gab keine Berührungspunkte, und nichts hätte darauf hingewiesen, dass die Zeit kommen würde, wo sich in ihrer Arbeit und in ihrem Herzen die Bibel und die tuwinische Kultur treffen würden.
„Von Anfang an erachtete ich es als meine Aufgabe, die Vorleser unter gläubigen Tuwinern zu finden. Das war auch der Plan vom IBT. Aber es gibt nicht so viele Tuwiner, die fliessend und korrekt auf Tuwinisch vorlesen können, und es war eher unwahrscheinlich, eine genügend grosse Anzahl davon in der kleinen Gruppe von Christen zu finden… Viele, die dem Herrn mit Eifer dienen wollten, versuchten auf dramatische Art zu lesen, das nötige Qualitätsniveau erreichten sie jedoch nicht. Für mich war es eine persönliche Tragödie, all diesen willigen Leuten abzusagen, aber ich war genötigt, unter professionellen Sprechern zu suchen. Zuerst suchte ich unter den Studenten an meiner Musikhochschule. Ich brauchte eine bestimmte Klangfarbe, einen tiefen Brustton, der angenehmer zu hören ist als eine hohe Stimme. Und es zeigte sich, dass die besten Klangfarben bei tuwinischen Gesangskünstlern zu finden waren – bei Kehlkopfsängern.“
Was für eine wunderbare Übereinstimmung, wenn wir an den ‚Sonnenpropeller‘ denken und an den damit verbundenen kühnen Traum, dass sich die tuwinische Kunst des Kehlkopfgesangs wie die Sonnenstrahlen, die zwischen den Wolken durchbrechen, über die ganze Welt ausbreiten sollte. Breitet sich die biblische Botschaft nicht genau auf diese Weise aus? Die hohe Kunst der Sänger erwies sich indirekt als grosse Hilfe, die biblische Botschaft in die hörbare Form einzubetten.
So hat durch die Audioaufnahme des tuwinischen AT die biblische Botschaft begonnen, sich mit der Welt, für die sie bestimmt ist, zu verflechten. Um in die traditionelle Kultur eingebettet zu werden, brauchte es den Einsatz von tuwinischen Nichtchristen, die als Experten ihre traditionellen Kunstformen einbrachten. Von Anfang an liess sich die Bibel nicht in das tuwinisch-christliche Umfeld eingrenzen. Sie wurde ein Samenkorn, das verschiedene Böden testen muss. Im tuwinischen Projekt, wo es die vollständig übersetzte Bibel seit sieben Jahren gibt, hat das Wort Gottes nun ganz klar begonnen, sich auf eigenen Wegen auszubreiten – wie die Sonnenstrahlen, die zwischen den Wolken hervordringen.
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