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„Ich entferne die verzehrenden gedanken aus euren herzen...“
Sommer 2023 Rundbrief

„Dies war unsere bisher härteste Beratungssitzungszeit“, gestand Vitaly, der ehemalige Direktor von IBT und immer noch Berater für ein nordkaukasisches Bibelübersetzungsprojekt, dessen Sprache wir aus Sicherheitsgründen nicht nennen, sondern einfach von der ‚T-Sprache‘ reden. Vitaly erzählte dann von einigen der Schwierigkeiten in den Sitzungen, und wie die meisten von ihnen überwunden werden konnten. Das hinterliess bei ihm ein Gefühl der Freude über eine gelungene Arbeit, zu der alle Mitglieder des Übersetzungsteams beigetragen hatten.

Der T-Sprache fehlen viele der abstrakteren Wörter, die in den meisten europäischen Sprachen zu finden sind. Dabei handelt es sich gerade auch um Worte, die für die Bibelübersetzung unerlässlich erscheinen. Es gibt zum Beispiel kein T-Wort für ‚Liebe‘ (wie auch in anderen verwandten Sprachen, die stattdessen ‚Verlangen‘ verwenden), kein Wort für ‚Stolz‘, kein Wort für ‚Wahrheit‘. Der T-Übersetzer ist jedoch bestrebt, Lehnwörter aus der vorherrschenden Sprache seines Landes zu vermeiden, wann immer dies möglich ist: „Unsere Gedichte sind in letzter Zeit so langweilig geworden, weil unsere Dichter eine grosse Anzahl von Wörtern entlehnen und nicht einmal innehalten, um darüber nachzudenken! Wenn wir biblische Texte übersetzen, versuchen wir unser Bestes, keine Lehnwörter zu verwenden, sondern nach unseren muttersprachlichen Wendungen zu suchen. Allerdings müssen wir

dann überprüfen, wie diese verstanden werden. Wenn sich herausstellt, dass ein Wort nicht mehr bekannt ist oder als veraltet empfunden wird, dann wählen wir ein Lehnwort.“ Für die Verständlichkeitsüberprüfung fahren zwei Teammitglieder in die Bergdörfer. Der eine liest den Zuhörern den Text vor, der andere stellt dazu Fragen. Ich wollte vom Übersetzer wissen, mit wem er über die Bibelübersetzung sprechen könne. Seine Landsleute sind Muslime. „Wir reden mit jedem, jedem guten Menschen. Meistens sind es unsere Bekannten. Darunter gibt es Hirten, Lehrer, Schulkinder und ältere Menschen. Sie fragen nicht, warum wir die Bibel übersetzen, sagen nicht, ‚das ist ein fremdes Buch‘. Sie fragen auch nicht: ‚Warum machst du das?!‘ Stattdessen wollen sie wissen, wann wir wieder kommen. ‚Hier hast du aufgehört zu lesen – wir müssen uns für das nächste Mal daran erinnern. Bitte beeile dich und komme bald wieder!‘“

Die Familienmitglieder des Übersetzers sind alle am T-Projekt beteiligt. Der Vater ist der philologische Redakteur, die Mutter beantwortet Verständlichkeitsfragen und die Ehefrau, nennen wir sie Arina, hat die Funktion einer sogenannt ‚uneingeweihten Muttersprachlerin‘. Das bedeutet, dass der Text ihr gänzlich unbekannt ist, bis sie ihn zum ersten Mal in der Beratungssitzung sieht und dem Team sagt, wie sie ihn versteht. Arina freut sich über diese spezielle Rolle. Als Muslima hat sie nie die Bibel in irgendeiner Sprache gelesen. All die biblischen Geschichten entfalten sich bei den Sitzungen zum ersten Mal vor ihren Augen. Ein zusätzlicher Bonus ist, dass Arina weit weg vom Kaukasus, in Sibirien, geboren wurde, was bedeutet, dass sie Muttersprachlerin eines anderen Dialekts der Sprache ist. Mit ihrer Hilfe lernen die Teammitglieder sofort, was ausserhalb des Kaukasus unverständlich ist. Sie versuchen, den Text für so viele Muttersprachler wie möglich so klar wie möglich zu machen, egal wo sie leben.

Während der Sitzungen gibt Arina dem Berater jeweils eine russische mündliche Rückübersetzung eines Bibeltextes in der T-Sprache. Hier ein Beispiel: die Worte des Johannesevangeliums im 14. Kapitel, Vers 27: „Frieden lasse ich euch zurück, meinen Frieden gebe ich euch. Nicht einen Frieden, wie die Welt gibt, gebe ich euch. Euer Herz erschrecke nicht und verzage nicht“ übersetzte sie in folgender Weise: „Freude lasse ich euch zurück, meine Freude gebe ich euch...“ Vitaly beschreibt, was passiert ist: „Ich markierte die Stelle, wir kamen zum Ende des Kapitels und gingen dann zurück, um mögliche Probleme bei der Übersetzung zu besprechen. Ich sagte: ‚Freunde, ich sehe, in Vers 27 habt ihr das Wort ‚schadwala‘. Arina hat es mit ‚Freude‘ übersetzt. Das ist sehr interessant. Hat sie es richtig übersetzt?‘ ‚Oh, ja‘, bestätigten sie, ‚sie hat es absolut richtig übersetzt, denn das ist es, was es bedeutet. ‚Schadwala‘ ist in der Tat ‚Freude‘. ‚Nun, warum ist es so übersetzt?‘ ‚Wir konnten nicht herausfinden, wie man ‚Frieden‘ übersetzt. Wir haben ‚Frieden‘ als Abwesenheit von Krieg, aber das ist nicht das, worüber Jesus hier spricht. Wir versuchten dies und das, aber wir konnten in unserer Sprache kein Wort finden, um die Idee des inneren Seelenfriedens auszudrücken.‘“ Vitaly kommentiert: „Auf diese Weise fanden wir ein weiteres wichtiges abstraktes Konzept, für das es in der T-Sprache kein Wort gibt.“

45 Minuten lang mühte sich das Team mit diesem Vers ab, kam aber nicht weiter. Dann schlug Vitaly vor: „Lasst uns dieses Konzept von der entgegengesetzten Seite betrachten: wir haben keinen Ausdruck für das, was Jesus gibt, aber was würde als Folge des Handelns Jesu verschwinden? Der Ausdruck ‚Nicht so, wie die Welt gibt‘ bedeutet, dass die Welt auch die Fähigkeit hat, den Menschen so etwas zu bieten. Aber wie macht die Welt das? Zum Beispiel schreit sie: ‚Verdiene mehr Geld, damit du ein Sicherheitspolster im Leben hast.‘ Die Welt bietet aktiv etwas Eigenes an und versucht, eine Art Pflaster auf eine große Wunde zu legen, während Jesus sagt: ‚Die Art und Weise, wie ich dies tue, ist nicht die Art und Weise, wie die Welt es tut.‘ Aber was ist die spezifische Wunde, über die wir hier sprechen? Wir haben etwas in unseren Herzen, das uns dessen beraubt, was wir auf Griechisch, Russisch oder Englisch ‚Frieden‘ nennen, aber die T-Sprache hat kein Wort, um dies auszudrücken. Also bemühte sich das Team, die gegenteilige Eigenschaft zu identifizieren, und es wurde die folgende Wiedergabe angeboten: ‚Aus euren Herzen entferne ich die verzehrenden Gedanken. Nicht so, wie es die Welt macht.‘ Arina verstand sofort: ‚Ja! Das sind die Gedanken, die einen Menschen stören, die uns nachts wachhalten.‘“

Als die Sitzungen vorbei waren, sagte Arina aus eigenem Antrieb: „Diese Bibeltexte sind erstaunlich! Wie unterschiedlich Jesus zu verschiedenen Menschen spricht, und wie unterschiedlich die Menschen auf ihn reagieren. Einige sind gegen ihn, einige nehmen ihn an und glauben an ihn, und wieder andere machen zwar den Anschein, an ihn zu glauben, aber dann stellt sich heraus, dass dieser Glaube nicht echt ist, nicht tief.“

Vitaly fährt weiter: „Als Arina las, sah ich in ihren Augen und in ihren Fragen, dass sie von diesen Texten beeindruckt ist: wie tief sie sind, wie mächtig, wie sie das Bild Jesu Christi zeigen, mit dem sie als Muslima zuvor nur wenig in Berührung gekommen war. Und jetzt ist ihr das ganze Bild des Evangeliums von Jesus Christus offenbart worden.“ Die Sitzungen waren vorbei. Im Gegensatz zu Arina hatte Vitaly das Johannesevangelium viele Male gelesen: im griechischen Original, in seiner Muttersprache und in vielen weiteren Übersetzungen. Aber auch für ihn änderte sich etwas, als diese neue Übersetzung vor seinen Augen geboren wurde. Er sagte: „Traduttore – traditore: übersetzen ist in gewissem Sinne Verrat, wie es das italienische Sprichwort ausdrückt. Gleichzeitig wissen wir aber, dass mit der Übersetzung neue Textbezüge entstehen. Und diese sind nicht falsch, nur weil sie neu sind. Für einen Muttersprachler können diese Bezüge den Gedanken klarer machen als selbst das Original. Es gibt jetzt keinen Frieden in der Welt, es ist schwierig zu reisen und beunruhigend, Grenzen zu überschreiten. In letzter Zeit hatte ich selbst viele verzehrende Gedanken, und tatsächlich haben sie mich nachts aufgeweckt. Nachdem wir diesen Vers während der Beratungssitzung durchgearbeitet hatten, wurde mir klar, was es heisst, dass Gott mir seinen Frieden anbietet; er will meine verzehrenden Gedanken wegnehmen, damit sie mich nicht verschlingen. Warum habe ich denn diese Gedanken? Könnte das bedeuten, dass ich Gott nicht das gebe, was er mir gerne abnehmen möchte? Warum nehme ich sein liebevolles Angebot nicht an? So hat die Übersetzung dieses Verses in die T sprache mein eigenes Gebet erneuert. Ich beschloss, Gott meine verzehrenden Gedanken zu geben, ihn zu bitten, mich davon zu befreien.“

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