Die Geburt des Evangeliums auf Tschuktschisch
„Das Lukasevangelium wurde ins Tschuktschische übersetzt. Das Übersetzungsteam umfasst Muttersprachler aus der Volksgruppe und auswärtige Experten. Ihr Ziel ist es, sicher zu stellen, dass die Übersetzung für den Leser klar und verständlich ist, und was noch wichtiger ist, dass die eigentliche Bedeutung, der Sinn und die Wirkung durch den Text vermittelt werden.“
Diese Worte wurden in den lokalen Fernsehnachrichten in Anadyr, der Hauptstadt von Tschukotka gesendet. Aber diese einfachen Worte eines kurzen Fernsehberichts geben uns nicht das volle Bild von dem, welche kreativen und intellektuellen Anstrengungen die Aufgabe verlangt. Es gibt nicht wieder, wie viele Monate und Jahre zuerst für die Übersetzung und dann für die Revision eines relativ kleinen Textes des Lukasevangeliums tatsächlich erforderlich waren.
„Richtige Bedeutung, Sinn und Wirkung...“ Ja, aber wie kann man das erreichen, wenn beispielsweise im Tschuktschischen kein Wort „Gott“ existiert? Der einzige existierende Begriff ist „Schöpfer“. Oder wenn es nur ein Wort gibt für zwei Begriffe „Engel“ und „Dämon“? Es ist nur mit Hilfe zusätzlicher Erklärungen möglich, das eine vom anderen zu unterscheiden. Dabei beschreibt das Wortes für die beiden gegensätzlichen Begriffe eine andere Wirklichkeit als die in den Evangelien beschriebene. Tatsächlich bedeutet das tschuktschische Wort weder „Engel“ noch „Dämon“, sondern eher einen „persönlichen Geist“. Der Übersetzer erklärte die Bedeutung dieses Begriffs in unserem langen Interview wie folgt: „In der traditionellen tschuktschischen Kultur glaubt man, dass die eigenen Geister gut sind, weil sie Gutes für mich tun, aber ein anderer kann denken, dass sie überhaupt nicht so gut sind.“
„Wollen Sie damit sagen, dass, wenn zwei Menschen verfeindet sind, ich den Geist meines Feindes als Teufel und meinen eigenen als Engel bezeichnen würde?“
„So ist es tatsächlich“, stimmte die Übersetzerin zu meiner großen Überraschung bei.
Der exegetische Berater des Übersetzungsprojekts kämpft mit großen Schwierigkeiten. Die Bedeutung des Verbs „Buße tun“ kann nur durch „das schändliche (beschämende) Leben ändern“ ausgedrückt werden, während „nicht richten“ durch „nicht schlecht denken“ wieder gegeben wird. Zum Beispiel wird der Ausdruck „eure Söhne werden eure Richter sein“ mit „eure Kinder werden sagen, ob ihr richtig gesprochen habt“ übersetzt. Das Wort „Erlöser“ auf Tschuktschisch wird buchstäblich als „derjenige, der das Leben gibt“ verstanden. Natürlich stellt sich dann sofort die Frage, was der Unterschied zwischen „Schöpfer“ und „Erlöser“ ist. Aber die Übersetzerin erklärt geduldig die Schattierungen und Feinheiten der Bedeutung: „Der Schöpfer schuf die Menschen, aber sie gingen zugrunde, während der Erretter derjenige ist, der ihnen Leben gab, was bedeutet, dass Er ihnen, die in ihren Sünden umkommen, ein anderes Leben zeigt.“
„Segnen“ wird als „gute Worte senden, Gutes wünschen“ ausgedrückt. Was auf Tschuktschisch völlig fehlt, ist der Begriff des "Losewerfens". Wenn es im Original heißt, dass das Los auf jemanden gefallen ist, wie etwa im Buch Jona, liest die tschuktschische Übersetzung „die Person wurde gewählt“ oder „gefunden“ oder sogar „bestimmt...“.
Der еxegetische Prüfer berichtete nach seiner Reise nach Anadyr: „Was die Leute in eigener Initiative tun, muss dann von Fachkräften überarbeitet werden. Aber es ist so wertvoll, weil sie es so sehr wollen. Sie haben den brennenden Wunsch, diese Texte in ihrer Muttersprache zu haben. Es ist erstaunlich, dass auf Initiative einer örtlichen Kirche eine erfahrene, ältere Lehrerin eine vollständige Übersetzung unserer Kinderbibel in Angriff genommen und das gesamte Buch übersetzt hat. Um bei der Verständlichkeitsprüfung von Lukas und Jona zu helfen, kamen einheimische Frauen nie einzeln, sondern in Paaren oder Gruppen von drei Personen. Das war nicht verwunderlich: Einer von ihnen kennt die Sprache besser, kann aber Tschuktschisch nicht lesen, während ein anderes Mitglied der Gruppe es lesen kann, aber ihre Sprachkenntnisse sind schwächer. Die Teilnehmer halfen sich gegenseitig und berieten sich.
Um zu einer Sitzung mit dem Übersetzungsberater nach Moskau zu kommen, müssen die Teammitglieder manchmal ihre Sommerferien opfern, obwohl man in Tschukotka sagt, dass „der Sommertag das Jahr füttert“, und der Sommer ist zum Verzweifeln kurz. Als die Übersetzerin, deren russischer Name Larissa ist, eine spannende Geschichte über die Geheimnisse des Tschuktschischen erzählte, erwähnte sie auch, dass ihr wahrer tschuktschischer Name Ryskyntonav ist. „Wenn ein Kind geboren wird,“ sagte sie, „geben wir ihm einen Namen, der im Zusammenhang mit dem steht, was im Moment seiner Geburt geschieht. Ich bin im Sommer geboren, wenn die Knospen aufbrechen und frische Blätter erscheinen. Und das ist genau das, was mein Name bedeutet.“
Es ist daher kaum möglich, häufiger als einmal im Jahr eine Arbeitssitzung durchzuführen. Jedes dieser Treffen ist Gold wert. Der Zeitplan ist eng, und die Zeit ist knapp bemessen. Kurz vor der 2016 angesetzten Arbeitssitzung bekam die Übersetzerin eine Lungenentzündung und wurde ins Krankenhaus gebracht. Nur dank ihrer enormen Begeisterung für das Übersetzungsprojekt, schaffte sie es doch noch nach Moskau zu kommen. Das Buch Jona wurde abschliessend besprochen, das Lukasevangelium konnte noch nicht fertiggestellt werden. Bei der nächsten geplanten Beratungssitzung im Jahr 2017 hofft das Team, die Revision von Lukas abschließen zu können.
Der Prozess der Bibelübersetzung in Sprachen, wie das Tschuktschische, in denen bisher keine Bibeltexte existieren, ist immer langsam und kompliziert. Die erste Übersetzung ist unweigerlich ziemlich ungeschickt und manchmal wortwörtlich. Sie enthält oft viele Lehnwörter. Wenn aber dieser erste biblische Text Teil des Lebens der Menschen wird, weckt er die ruhenden Ressourcen ihrer Sprache, wird zum Denken provozieren und bringt neues Leben hervor wie die Knospen, die im Sommer aufbrechen.
Wir planen in diesem Jahr das Buch Jona als zweisprachige Ausgabe zu veröffentlichen Für die finanzielle Unterstützung der Publikation und des Transports in die entfernte Gegend sind wir dankbar (10 Kopien kosten 12.- Fr., wir drucken 1 000 Kopien).
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