Galina, ein Mitglied vom chakassischen Bibelübesetzungs- und Audioaufnahmeteam des IBÜ, beginnt zu erzählen: „Früher hatten die Chakassen folgende Beerdigungsrituale: Der Leichnam des verstorbenen Familienmitglieds blieb zuhause, und seine Angehörigen holten einen
Chaidzi (Sänger von Heldenballaden). Der
Chaidzi begleitete seinen Gesang auf einem chakassischen Musikinstrument mit sieben Saiten, das
Tschatchan genannt wird. Dieses Instrument ist der Stolz der Chakassen, weil wir das einzige asiatische Volk sind, das dieses Instrument durch die Zeiten hindurch zu bewahren verstanden hat. In früheren Zeiten war es in ganz Asien verbreitet. Der
Chaidzi setzte sich in der Nähe des Kopfes des Verstorbenen hin und begann, Heldenballaden zu singen, um der Seele bei ihrem Übergang in die andere Welt beizustehen. Rund herum versammelten sich die Leute und hörten aufmerksam zu. Wenn sie etwas Lustiges hörten, lachten alle; wenn sie von tragischen Ereignissen hörten, zeigten sie, dass sie mit den Helden der Ballade mitfühlten. Immer kommentierten die Zuhörerinnen und Zuhörer auf irgendeine Weise die Erzählung. Es wurde von niemandem erwartet, dass man an der Beerdigung Trauer zeigen und weinen sollte, denn der/die Verstorbene ‚kehrte zur wahren Heimat zurück‘. In der chakassischen Sprache gibt es dafür sogar ein besonderes Wort. Der letzte Abschied sollte der Tatsache würdig sein, dass diese Person zur Erde gekommen ist und sie nun wieder verlässt. Der Tod ist ein sehr bedeutendes Ereignis in jedem Leben.“er
Chaidzi setzte sich in der Nähe des Kopfes des Verstorbenen hin und begann, Heldenballaden zu singen, um der Seele bei ihrem Übergang in die andere Welt beizustehen. Rund herum versammelten sich die Leute und hörten aufmerksam zu. Wenn sie etwas Lustiges hörten, lachten alle; wenn sie von tragischen Ereignissen hörten, zeigten sie, dass sie mit den Helden der Ballade mitfühlten. Immer kommentierten die Zuhörerinnen und Zuhörer auf irgendeine Weise die Erzählung. Es wurde von niemandem erwartet, dass man an der Beerdigung Trauer zeigen und weinen sollte, denn der/die Verstorbene ‚kehrte zur wahren Heimat zurück‘. In der chakassischen Sprache gibt es dafür sogar ein besonderes Wort. Der letzte Abschied sollte der Tatsache würdig sein, dass diese Person zur Erde gekommen ist und sie nun wieder verlässt. Der Tod ist ein sehr bedeutendes Ereignis in jedem Leben.“
Beim Hören von Galinas Bericht beeindruckte mich vor allem dieser letzte Satz, der auf den ersten Blick ein scherzhafter Widerspruch zu sein scheint. Sie sagte das so beiläufig und natürlich, wie etwas, das völlig klar ist, es kam nicht als Resultat von langen philosophischen Überlegungen. Ja, es klang sehr christlich. Diese Aussage von einer Übersetzerin der Evangelien zu hören, wäre weiter nicht überraschend gewesen, aber diese Weisheit stammte bei Galina nicht aus dem Evangelium, sondern aus den alten, heidnischen, chakassischen Traditionen. Konnte es sein, dass die Erkenntnis ‚der Tod ist ein bedeutendes Ereignis im Leben‘ der Weltsicht ihrer heidnischen Vorfahren innewohnt und ihr zugehörig ist und sich immer noch in der chakassischen Kultur und in Galinas persönlicher Lebensauffassung erhalten hat? In der ‚nach-christlichen‘ Gegenwart der westlichen Gesellschaft scheint sie dagegen ganz verloren gegangen zu sein.
G
alina fuhr weiter: „Während der atheistischen Sowjetzeit verloren wir unsere Beerdigungstradition, und nun gibt es einen riesigen Bedarf, etwas Neues zu schaffen, um dem Verlassen des irdischen Lebens eine Weihe zu geben. Es gibt keine
Chaidzi mehr, und man weiss nicht mehr, wie man sich von den Verstorbenen verabschieden soll. Ich hörte von einer betagten Frau in einem abgelegenen Dorf, die man eingeladen hat, an einer Beerdigung Evangeliumstexte auf Russisch aufzusagen. Sie tat dies jedoch auf chaotische und fehlerhafte Weise, ohne jegliches Verständnis für die Bedeutung der Worte, einfach weil die Leute etwas Religiöses hören wollten. Es wirkte wie ein magisches Ritual und hinterliess einen erbärmlichen Eindruck… Vor der Russischen Revolution 1917 übersetzte und veröffentlichte der Russischorthodoxe Missionar Stygaschew Teile der Evangelien auf Chakassisch, aber nach der Revolution konnten diese nicht weiter verbreitet werden. Unser Volk hat daher sehr wohl Kenntnis vom Evangelium. Es gibt Chakassen, die zur Kirche kommen, aber besonders die Dorfbevölkerung versteht es kaum, wenn das Evangelium auf Russisch vorgelesen wird. Als wir unsere Audioaufnahmen des Evangeliums dem Radio anboten, taten wir das zuerst sehr diskret. Es war die Zeit um Ostern, und wir kombinierten einige Teile der Auferstehungsgeschichten aus allen vier Evangelien. Das wurde mit grosser Begeisterung aufgenommen, und die Radiosprecher waren sehr froh, über Ostern zu sprechen und dies auch mit dem entsprechenden Text illustrieren zu können. Sie versprachen anschliessend, dass die Audioaufnahmen aller vier Evangelien auf allen Radioprogrammen Kapitel für Kapitel ausgestrahlt würden. In Wirklichkeit kamen diese Ausstrahlungen jedoch nach dem Matthäusevangelium zum Erliegen. Die Verantwortlichen am Radio verstanden nicht, warum die gleichen Ereignisse auf vier verschiedene Weisen wiederholt werden sollten. Sie wollten stattdessen eine ‚Fortsetzung‘. Das moderne Bewusstsein ist eben eher an die Gattung der ‚Serien‘ gewöhnt… Ich erklärte, dass wir noch keine Aufnahmen der Apostelgeschichte oder der Apostelbriefe hatten, und ich musste unseren Partnern versprechen, dass sie diese Aufnahmen als Erste erhalten würden, wenn und falls wir sie produzieren.“
„Auch die traditionelle chakassische Religion wird neu belebt. Eines der Wahrzeichen unserer ‚nationalen Seele‘, eine bekannte chakassische Sängerin, ist eine meiner guten Bekannten. Sie ist schon recht betagt. In der Sowjetzeit erreichte ihre Bekanntheit ihren Höhepunkt, und zwar war ihre Stimme nicht nur in Chakassien oder in der Sowjetunion bekannt, sondern auf der ganzen Welt. Diese wunderbare Frau hat auch während der Zeit des Atheismus ihren tiefen Glauben an unsere Ahnen bewahrt. Sie brachte ihnen Opfer dar und bekräftigte, dass sie ihre Gegenwart spüre. Da wir eine sehr enge Beziehung hatten, fragte ich sie vor vielen Jahren, ob sie an einer Überprüfung unserer Evangeliumstexte teilnehmen würde. Sie arbeitet einen Tag mit unserem Team; auf der Heimreise nahm sie mich aber beiseite und sagte: ‚Bitte, Galina, nimm es mir nicht übel, ich schätze dich sehr, aber ich werde diese Arbeit nicht weiterführen. Das ist nicht unser Glaube. Mein Auftrag ist, die Seele meines Volkes neu zu beleben und unsere Ahnen zu verehren‘. So war sie ihrem Glauben hingegeben. Diese Episode trübte aber unsere Beziehung in keiner Weise.“
„Später hatte ich eine weitere Begegnung mit ihr. Es war Winter, und ich hatte sie zu einer Versammlung von Fernsehzuschauern in einem sehr abgelegenen Dorf eingeladen. Nach dem Hauptprogramm wollten wir noch ein Konzert veranstalten, damit das Ereignis für die Dorfbewohner eindringlich und unvergesslich würde. Sie und ihre Kollegin verlangten nie Geld für solche Konzerte. Nun kann der Winter in Chakassien sehr hart sein, die Kälte sinkt bis zu -30° oder noch tiefer. Und es war solch ein kalter Winter! Wie immer telefonierten wir vor dem Anlass mit dem Direktor des Dorfklubs, damit das Klubhaus schon am Tag vorher geheizt werden konnte und die Reklamen, die auf unseren Besuch hinweisen sollten, aufgehängt würden. Dieses Mal war der Direktor jedoch nachlässig. Als wir ankamen, war da keine einzige Reklame, und das Innere des Klubhauses war mit Reif bedeckt. Wir konnten gerade noch einige ältere Frauen aus der Umgebung einladen. Alle sassen sie in ihren Pelzmänteln da, und auch wir sprachen eingehüllt in unsere Mäntel zu ihnen. Als wir mit unserem Programm fertig waren, war es Zeit für das Konzert. Und diese international berühmte Sängerin, die ‚goldene Stimme von Chakassien‘ trat in einem türkisfarbigen Seidenkleid auf die Bühne, sang während recht langer Zeit für diese paar älteren Frauen und gab sich selbst ganz in jedes Lied… Als ich sie darauf fragte, wie sie denn diese Kälte ausgehalten habe und warum sie nicht in ihrem Pelzmantel aufgetreten sei, antwortete sie einfach: ‚Das sind unsere Grossmütter, die ich zutiefst respektiere. In diesem Kleid habe ich für die belgische Königsfamilie gesungen. Unsere Grossmütter sind es wert, das Gleiche zu sehen wie die königliche Familie‘.“
„Als das chakassische Neue Testament erschien, schenkte ich ihr, trotz der Erfahrung während der Überprüfung, ein Exemplar. Ich vertraute ihr irgendwie, und mein Gefühl wurde nicht enttäuscht. Jahre gingen vorbei. Kürzlich trafen wir uns wieder. Meine Freundin ist nun bald 80 Jahre alt. Unter den ersten Dingen, die sie mir sagte, war Folgendes: ‚Galina, erinnerst du dich an das Buch, das du mir geschenkt hast? Ich möchte dir sagen, dass ich es lese!‘ Und sie fing an, ausgiebig aus den Evangelien zu zitieren. Das bedeutete mir sehr viel. Für viele Chakassen ist sie ja eine Verkörperung der Volksseele; und wenn sie in diesem neuen Lebensabschnitt nun anfängt darüber nachzudenken, was ‚in die wahre Heimat gehen‘ für sie persönlich bedeutet, dann wird das Neue Testament auch für viele andere in meinem Volk wichtig werden.“