Ich blätterte gerade im Tabassaranisch-Russischen Wörterbuch, das von Selina (Name geändert), einer tabassaranischen Sprachwissenschaftlerin, entwickelt worden ist, als mich ein Gedanke durchzuckte: „Auf Russisch bedeutet das Wort ‚ad‘ Hölle, während das gleiche Wort ‚ad‘ auf Tabassaranisch für Herrlichkeit steht… Fühlt sich das für tabassaranische Beter nicht merkwürdig an?“ Selina ist die Verständlichkeitsüberprüferin und die lokale Koordinatorin im IBT-Bibelübersetzungsprojekt, und ich wusste von ihr auch, dass sie eine Christin ist. Als ich ihr gegenüber meine Vermutung äusserte, dass sie in ihrer Kirche wohl die tabassaranische und nicht die russische Sprache brauche, lachte sie jedoch fröhlich über meine totale Ahnungslosigkeit. „Glaubst du wirklich, dass es in meinem Volk so viele Christen gibt, dass wir eine tabassaranisch sprechende Gemeinde führen könnten?“ fragte sie. „In unserem Übersetzungsteam gibt es gerade mal zwei Christen, den Übersetzer und mich. Alle anderen Team-Mitglieder sind Muslime wie die grosse Mehrheit unseres Volkes. Natürlich müssen wir eine russischsprachige Gemeinde besuchen.“
Das tabassaranische Neue Testament ist vor 10 Jahren herausgekommen, aber seit diesem Ereignis gab es keine nennenswerten Fortschritte mehr in Richtung Übersetzung der vollständigen Bibel. Ich fragte mich im Stillen, warum das wohl so ist, aber ich hatte nicht genug Mut, direkt zu fragen. Und doch gab mir Selina in unserem Gespräch fast von Beginn an die Antwort auf meine unausgesprochene Frage. Neben anderen linguistischen Themen spezialisiert sie sich auf Ortsnamen und andere Namen. Das war ein grosses Glück, denn ihre wissenschaftlichen und ihre natürlichen Interessen treffen sich so mit dem Hauptproblem im tabassaranischen Übersetzungsprojekt. Für dieses Team von sehr talentierten und begeisterten Leuten, die seit Jahren an der Übersetzung der Bibel auf Tabassaranisch arbeiten, sind die Namen und Bezeichnungen für Gott zu einem wahren Stolperstein geworden. „Die Tabassaraner gehen nicht auf Konfrontation aus, wir sind milder als andere kaukasische Völker, aber wir sind stur und nicht sehr zuvorkommend“, meinte Selina. „Ich finde aber, dass Sturheit und Hartnäckigkeit sehr positive und wertvolle Charakterzüge sind. Ihretwegen hatten wir dauernd leidenschaftliche Diskussionen und heftige Auseinandersetzungen rund um Schlüsselbegriffe. Erst vor kurzem haben wir uns als Team auf eine gemeinsame Annäherung ans Thema geeinigt. Und jetzt beginnt die Sprache unserer Übersetzungen, einem guten literarischen Standard zu genügen. Jetzt macht es mir wirklich Freude, die Texte zu lesen.“
„Die Gottesnamen sind tatsächlich ein sehr wichtiges Thema. So heisst beispielsweise Satan in allen Sprachen und Traditionen Satan. Wenn wir aber die Namen Gottes übersetzen, adaptieren wir den bestehenden religiösen Wortschatz in unsere Sprache.“ Mit dieser interessanten Bemerkung wies Selina auf ein wichtiges Merkmal ihrer Muttersprache hin. Alle tabassaranischen Namenwörter werden in zwei Gruppen unterteilt: Intelligente Wesen einerseits und alles andere andererseits. Satan und alle bösen Mächte befinden sich in derselben Gruppe wie Tiernamen und Namen von leblosen Dingen, jedoch nicht in der Gruppe, in der Gott, die Engel und die Menschen eingeteilt sind. Aus dieser besonderen religiösen Weltsicht lässt sich eine ganze Philosophie herauslesen.
Im Gegensatz zu vielen anderen dagestanischen Übersetzern und Sprachwissenschaftlerinnen, denen ich im Laufe meiner Tätigkeit beim IBT begegnet bin, scheint Selina mit dem aktuellen Zustand ihrer Muttersprache zufrieden zu sein. Tabassaranisch wird an Schulen unterrichtet, es gibt eine tabassaranische Zeitung, einige TV-Programme und Radiosender. Obwohl Selinas erwachsene Kinder nicht so gut tabassaranisch sprechen wie ihre Mutter, beginnt ihr Sohn doch ab und zu im Familienkreis eine Unterhaltung in seiner Muttersprache. Sie lesen auch die übersetzten tabassaranischen Bibelteile und diskutieren darüber. Doch seine Sprachkenntnisse genügen oft nicht, so wechseln sie immer wieder ins Russische und müssen sich dann bewusst anstrengen, um wieder zur tabassaranischen Sprache zurückzukehren. Selina gesteht auch, dass ihr Sohn besonders schwierige Laute nicht richtig aussprechen kann. Das verwundert jedoch nicht, wenn man bedenkt, dass laut dem Guinness-Buch der Rekorde Tabassaranisch eine der Sprachen der Welt ist, die etwa 50 Konsonantenverbindungen hat; auch weist sie die meisten Fälle auf, nämlich 44 bis 52. Selinas Bemühung, mit ihrem Sohn tabassaranisch zu sprechen, scheint mir eher einer Sprachübung als einer natürlichen Kommunikation zu gleichen. Selina argumentiert, dass ihre Kinder eben in der vielsprachigen Stadt Machatschkala aufgewachsen seien, während die Menschen, die richtig tabassaranisch sprechen, in den Dörfern leben.
Wie ich oben erwähnt habe, gehen die Tabassaraner nicht auf Konfrontation aus, und muslimische Dorfbewohner würden nie etwas Aggressives gegen die christliche Bibel sagen, wenn Selina neu übersetzte Bibelteile in ihre lokalen Bibliotheken bringt. Sie glaubt, dass es eine gute Chance gibt, dass übersetzte Bibelteile, besonders solche aus dem Alten Testament, den Weg zu den Herzen der Tabassaraner finden werden. „Die alttestamentlichen Bibelteile, die wir schon veröffentlicht haben, vor allem Genesis und die Sprüche, sind für unvorbereitete Muslime leichter zu verstehen“, erklärt sie, „weil darin moralische Werte und Respekt vor älteren Personen vorkommen, Themen, die in unserem Volk sehr wichtig sind. Ich sehe aber auch, wie Gott ebenso durch Übersetzungen aus dem Neuen Testament in den Herzen wirkt. Das wird in unserem Team sichtbar. Im Lauf seiner Arbeit am Projekt ist unser NT-Übersetzer auch Schriftsteller geworden, und alle seine Bücher sind durch seinen christlichen Weg inspiriert. Ein anderes Teammitglied, der verstorbene sprachwissenschaftliche Überprüfer des NT, war ein bekannter tabassaranischer Poet. Er blieb ein Moslem; sein letzter Gedichtband trug jedoch den Titel ‚Dornenkrone‘. Das spricht für sich. Wenn ich seine Werke analysiere, sehe ich, wie sich seine poetischen Themen im Lauf seiner Arbeit am NT veränderten“. Nach diesem Gespräch mit Selina suchte ich im Internet nach russischen Übersetzungen des verstorbenen tabassaranischen Poeten. Dabei fand ich folgende Worte von ihm: „Die Poesie wird leben, solange noch wenigstens in einem einzigen Menschen Barmherzigkeit zu finden ist“. Obwohl diese Weisheit genau genommen im Christentum wie im Islam beheimatet ist, hörte ich doch ganz klar die Stimme eines Menschen, der das Evangelium ernstnahm.
Eines der wichtigsten Zeichen dafür, dass Selinas Muttersprache überleben und sich weiter entwickeln wird, ist die Existenz von mehrsprachigen Büchern, die Texte auf Tabassaranisch und in weiteren Sprachen anbieten. So freut sich Selina beispielsweise besonders daran, tabassaranische Bibelteile nicht nur in Buchform, sondern auch als Bibelapp auf ihrem Handy lesen zu können, wobei sie den Text zugleich auch noch auf Russisch und Englisch dabei hat. Gegenwärtig arbeitet sie an einer achtsprachigen Ausgabe eines Wörterbuchs zum biblischen Wortschatz im Lukasevangelium. Neben dem griechischen Original, der russischen und der tabassaranischen Sprache wird dieses Wörterbuch noch fünf weitere Sprachen derselben Sprachfamilie einschliessen: Agurisch, Udisch, Tsachurisch, Rutulisch und Lesgisch. Wir hoffen, dass dieses Wörterbuch im nächsten Jahr veröffentlicht werden kann und als Basis für ähnliche Ausgaben in weiteren Sprachen dienen wird, in denen die Übersetzung der Bibel fortschreitet.
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